Fußballgeschichte(n)

#2 Schweres Los

Ob es ein Zufall ist, dass das Wort „Los“ im Deutschen sowohl ein Mittel zum Zufallsentscheid als auch Schicksal bedeutet? Der Fußball hielt beides bereit und in der DDR trieb das Los auch noch besondere Blüten. Geschichten vom Losentscheid.

Dass ein Losentscheid überhaupt nötig wurde, liegt dem Fußball inne. Das Spiel muss einen Sieger haben, einer muss gewinnen, sei es am Ende der Spielzeit oder am Ende des Spiels.

Vor dem 2. Weltkrieg war Losen indes kaum nötig. In England wurden im Pokal die Spiele so lange wiederholt, bis ein Sieger feststand, Deutschland kennt kaum eine Handvoll nichts-spielerische Entscheidungen, darunter allerdings die Meisterschaft 1922. Der DFB erklärte den Hamburger SV nach zwei Unentschieden gegen den 1. FC Nürnberg zum Meister, der HSV verzichtete später auf die zweifelhafte Ehre.

Der Münzwurf als endgültige Entscheidung kam erst mit dem Europapokal 1955 so richtig in Mode. Dort musste nach jeder Runde ein Sieger feststehen, denn das anfangs umstrittene Projekt konnte sich keine endlosen Wiederholungen erlauben: Noch gingen die nationalen Meisterschaften vor.

Genau im Europacup wurde auch die erste Losgeschichte der DDR geschrieben – und zwar beim ersten Auftritt einer DDR-Clubmannschaft  überhaupt. Im Wettbewerb der Landesmeister traf der SC Wismut Karl-Marx-Stadt auf die Elf von Gwardia Warschau. Das 1:3 in Warschau glichen die Kumpel im Talkessel von Aue aus: 3:1. Rasch einigte man sich auf ein Entscheidungsspiel, als neutraler Platz wurde Berlin gewählt. Das Spiel sah Gwardia schnell in Führung, aber in letzter Minute glückte Willy Tröger der Ausgleich: Verlängerung. Und die währte neun Minuten, dann war es zu finster. Also Losentscheid im Klubhaus. Wismut wählte den Löwen auf dem tschechoslowakischen Geldstück, Gwardia die Zahl. Die erste Münze kullerte vom Tisch – und wurde nie gefunden. Vielleicht hatte ein Spieler den Fuß drauf gesetzt, weil ihm das Ergebnis nicht passte. Auch die zweite Münze sprang herunter und verschwand. Nun rückten alle mit den Bäuchen an den Tisch, der Schiedsrichter warf zum dritten Mal und die Münze zeigte – den Löwen. Wismut hatte gewonnen. Und obwohl der SC Wismut so häufig wie kein anderer Meister in ein Entscheidungsspiel musste, ein Losentscheid traf die Auer im Europapokal nie wieder.

Und er traf überhaupt nur noch eine weitere DDR-Mannschaft, den SC Aufbau Magdeburg. 1964, die Magdeburger hatten gerade ihren ersten Pokal gewonnen, ging es in die Türkei zu Galatasaray. Beide Spiele endeten 1:1, das Entscheidungsspiel – Magdeburgs einziges – fand am 15. Jahrestag der DDR in Wien statt. Auch hier hieß es wieder 1:1. Also griff Schiedsrichter Haberfellner zur Zehn-Schilling-Münze und warf sie hoch in die Luft. Als sie auf dem Boden lag, zeigte sie die „10“. Magdeburg hatte auf Kopf gesetzt und war ohne Niederlage ausgeschieden. Kurios: Im folgenden Jahr schaffte es der SCM bis ins Viertelfinale, wo er bei West Ham United mit 0:1 verlor. Es war seine erste EC-Niederlage im achten Spiel – keine andere DDR-Mannschaft blieb international so lange ungeschlagen.

Der Club sorgte später als 1. FC Magdeburg unabsichtlich auch für die Abschaffung des Losentscheids im DDR-Fußball. Die Sektion Fußball und der DFV hatten bis dato für die endgültigen Entscheidungen keine andere Lösung gewusst als den Münzwurf. Das hatte sich trotz dessen Schwächen etabliert, anfangs gab es nichts anderes, später scheute man die Veränderung. Das lässt sich vielleicht am besten an der Wettspielordnung der frühen Jahre ablesen: Der Entwurf von 1956 sah bei Punkt- und Torgleichheit in der Meisterschaft ein  Entscheidungsspiel vor, das wiederholt wurde, bis der Meister gefunden war. In der endgültigen Fassung wurde nach einem unentschiedenen Entscheidungsspiel sogar der Meister durch das Los bestimmt – ein Fall, der nie eintrat. Im FDGB-Pokal und bei Turnieren wurde stets gelost, was dem „Siegen-oder-Fliegen“-Charakter des Pokalsystems auch entsprach. In den Hauptrunden des FDGB-Pokals war nur zweimal ein Losentscheid notwendig: Am 11. November 1964 benötigte der ASK Vorwärts Berlin die Hilfe der Münze, um die BSG Motor Köpenick nach zwei Remis auszuschalten.

Ein weiteres Mal warf der Schiedsrichter die Münze am 9. Januar 1966, beim Wiederholungsspiel 1. FC Magdeburg – TSC Berlin. Pokalverteidiger Magdeburg gewann, aber die Empörung war groß. DDR-Ligist TSC genoss als „Underdog“ nicht nur in Berlin Sympathie; man wünschte den Kleinen, dass sie den Großen ein Bein stellten. Umso ungerechter erschien es dann, wenn die Münze die Großen bevorzugte.

Nur so ist wohl zu erklären, dass der DFV schnell und ungewöhnlich regierte: Der Losentscheid wurde schon drei Monate später auf dem Verbandstag abgeschafft und die Underdogs erhielten sogar noch einen Bonus. Künftig musste der höherklassige Verein das Wiederholungsspiel gewinnen. Endete es nach Verlängerung unentschieden, kam die unterklassige Mannschaft direkt weiter. Bei gleichklassigen Mannschaften wurde  ein Elfmeterschießen ausgetragen.

Die neue DFV-Regelung hatte einen gewissen Charme durch ihr Herz für die Kleinen. Sie kam aber nur ein einziges Mal zum Tragen. Der FC Vorwärts holte in der 2. Hauptrunde 1970 beim FC Karl-Marx-Stadt II ein 2:2 und schaffte auch im Wiederholungsspiel am 7. November 1970 nur ein 1:1. Der FCK II zog so direkt ohne Sieg in die nächste Runde – einmalig im DDR-Fußball. Im Jahr darauf wurden diese Entscheidungen dann alle mit dem Fuß ausgetragen, ab 1971/72 sah das Reglement im FDGB-Pokal stets ein Elfmeterschießen vor.

Auf wen diese moderne Ermittlung des Siegers zurückgeht, ist umstritten, Karl Wald vom Bayerischen Fußballverband und der Israeli Yosef Dagan hatten ähnliche Ideen für ein Verfahren, das beiden Kontrahenten gleiche Bedingungen bot. Nach der Annahme durch die Regelkommission IFAB am 27. Juni 1970 begann rasch der Siegeszug des Elfmeterschießens.  

Dazu mag auch die eine oder andere Überraschung beigetragen haben, etwa durch die DDR, die noch 1970 durch das Los zur besten Mannschaft Europas wurde: In Schottland gewann die Mannschaft durch Losentscheid das Finale des UEFA-Juniorenturniers gegen die Holländer. Es war eine der wenigen Entscheidungen, bei der man das Gefühl haben durfte, die Münze habe fair gehandelt. Denn im Jahr zuvor hatte die DDR das Juniorenturnier ausgerichtet und war bis ins Finale gekommen. Dort vermochten die DDR-Jungs den Widerstand Bulgariens aber nicht zu brechen – Unentschieden. Das Los ließ die Bulgaren jubeln, die Gastgeber schlichen mit hängenden Köpfen vom Platz.

Als man der DDR als gleichwertigem Finalisten für die erste Qualifikationsrunde 1970 wenigstens ein Freilos geben wollte, wurde das abgelehnt. Auch die Abschaffung des Losverfahrens für das Turnier wurde geblockt. „Das sei ein ganz seltener Fall“, beschwichtigten die Gegner.

So schien es ausgleichende Gerechtigkeit zu sein, dass der seltene Fall erneut eintrat und die DDR als Sieger sah. Nach dem Turnier wurde das Losverfahren abgeschafft, schon im Turnier 1971 musste die DDR für ihre Bronzemedaille das erste Elfmeterschießen gewinnen, 5:3 gegen die UdSSR.

Das etablierte sich rasch. Der DFB führte es bundesweit zur Saison 1970/71 ein und registrierte das erste schon Ende 1970 im DFB-Pokal zwischen dem FC Schalke 04 und dem VfL Wolfsburg. In England gab’s das erste ein Jahr später. Beim kurzlebigen Watney-Cup, einem Wettbewerb vor Saisonstart für Mannschaften aller vier Profiligen, schlug Viertligist Colchester United 1971 den Erstdivisionär Westbromwich Albion 4:3 im Elfmeterschießen. Der DFV, der sich ja so früh zu dieser Art der Entscheidung entschlossen hatte, sah erst fünf Jahre nach seinem Votum ein Elfmeterschießen. In der ersten Runde des FDGB-Pokals 1971/72 gewann Post Neubrandenburg mit 4:1 bei KKW Greifswald II.

Und dann ging es Schlag auf Schlag: Im Europacup 1971/72 unterlag der BFC Dynamo dann Dynamo Moskau im Elfmeterschießen und die Europameisterschaft 1976 sah im Finale in Belgrad die erste Form dieser Entscheidung. Angesichts zahlreicher Dramen wurde Fans und Verantwortlichen bald klar, dass man im Prinzip nur ein Glücksspiel gegen das andere ausgetauscht hatte. Und mancher Schütze – etwa Uli Hoeneß, Zoran Vujovic oder Gareth Southgate – wird sich vielleicht den Münzwurf zurückgewünscht haben. Beim Losen gab es zumindest keinen Fehlschützen.

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#1 Wismars großes Rennen

Ein echtes Lokalderby erlebten in der DDR nur drei Städte: Berlin, Dresden und Leipzig. Eine vierte scheiterte knapp und als erste: Sportpolitische Entscheidungen, Sportlerflucht und günstige Ergebnisse öffneten Wismar im Juni 1950 kurz die Tür zur Derby-Stadt.

Wenn man an die Lokalderbys in der DDR-Oberliga denkt, fallen einem zuerst Leipzig und dann Berlin ein, nach einigem Nachdenken noch Dresden. Und nur diese drei hatten überhaupt je mehr als eine Oberliga-Mannschaft in ihren Mauern. Doch fürs erste echte Lokalderby lieferten sich die Städte ein knappes Rennen und ganz am Anfang kämpfte Dresden nicht mit Leipzig oder Berlin, sondern mit – Wismar. Und mehr noch: Für einen Wimpernschlag der Geschichte hatte Wismar die Chance, diesen Wettlauf für sich zu entscheiden und die erste Stadt mit zwei Oberligamannschaften zu werden.

Dabei hätte die Hafenstadt ehrlicherweise nicht einmal eine verdient gehabt. Bei der Gründung der DS-Oberliga 1949 hatten die Sportpolitiker nämlich wenig Rücksicht auf die unterschiedliche Spielstärke der einzelnen Länder genommen. Sie nahmen die jeweils zwei besten Mannschaften jedes DDR-Landes, dazu den Drittbesten Sachsens und die drei Besten im FDGB-Pokal. Spielstarke Mannschaften aus Sachsen wie Lauter, Chemnitz und Erich Zeigner Leipzig landeten so in der Zweitklassigkeit, dafür spielten die deutlich schwächeren Mecklenburger von Vorwärts Schwerin und Anker Wismar mit. Diese beiden Besten Mecklenburgs hatten in der Ostzonenmeisterschafft  nie Vorrunde überstanden und 1949 bei Ergebnissen von 0:2 bzw. 0:10 nicht einmal ein Tor geschossen. Am Ende der ersten Oberligasaison waren die beiden dann folgerichtig unter den drei Absteigern; Schwerin sehr eindeutig, Anker sehr knapp. Trotzdem: Am 16. April 1950 verabschiedete sich Wismar erst einmal von der Oberliga-Landkarte…

…um gleich darauf als Kandidat wieder aufzutauchen. Am selben Tag begannen die Aufstiegsspiele der fünf Landesklassenmeister, und da war neben einer zweiten Dresdner Mannschaft – Sachsenverlag – auch Vorwärts Wismar im Rennen. Mit Groß-Räschen, Thale und Weimar kämpften sie um den Aufstieg in die Oberliga, drei der fünf würden es schaffen. Sachsenverlag Dresden spielte zuerst in Wismar, das 1:1 war der erste Punkt für beide. Doch während die Dresdner danach Punkt um Punkt sammelten, verlor Vorwärts Wismar Spiel um Spiel. Erst am 4. Juni gewann Vorwärts Wismar mit viel Dusel gegen Groß-Räschen 1:0, der erste Sieg in der Aufstiegsrunde. Mit nunmehr 3:9 Punkten waren die Wismarer Letzter. Trotzdem war mit Glück der Aufstieg noch zu schaffen, denn der dritte Platz lag nur zwei Punkte entfernt.

Am 4. Juni gewinnt Vorwärts Wismar und erhält sich die Chance auf die Oberliga. Fuwo 25/1950.

Vorne war Sachsenverlag Dresden und KWU Weimar der Aufstieg kaum noch zu nehmen und Dresden würde dann die erste Stadt mit zwei Oberligamannschaften sein. Aber plötzlich hatte Dresden keine Oberliga-Mannschaft mehr. Der designierte Oberligist Tabak Dresden gab Anfang Juni seinen Oberligaplatz zurück. Tabak war durch eine politische Entscheidung in die Oberliga gekommen. Die BSG sollte die SG Dresden-Friedrichstadt ersetzen. Friedrichstadt hatte am 16. April 1950 das entscheidende Spiel um die Meisterschaft 1:5 gegen Zwickau verloren. Das Spiel, geprägt von hartem Einsteigen und strittigen Entscheidungen, endete mit skandalösen Ausschreitungen. Die Sportführung unter Manfred Ewald nutzte die Gelegenheit, den als bürgerlich geltenden Verein aufzulösen. Die Spieler wurden zur BSG VVB Tabak Dresden geschickt, gingen aber größtenteils in den Westen, die meisten über Pfingsten (27. Mai 1950). Ohne Mannschaft aber verzichtete die BSG Tabak auf ihren Oberligaplatz. Der Deutsche Sportausschuss entschied nun, die beiden bestplazierten Absteiger um den freigewordenen Platz kämpfen zu lassen. Das waren Altenburg und – Wismar.

In der Woche nach dem Wismarer Sieg in der Aufstiegsrunde gibt Tabak Dresden den Oberligaplatz zurück. Dresden hat nur noch eine Mannschaft, den Aufsteiger Sachsenverlag. Wismar hat plötzlich zwei Eisen im Feuer: Anker bestreitet das Entscheidungsspiel um den Oberligaverbleib. (Neue Zeit 11.06.1950)

Und so konnte man sich nach dem 4. Juni in Wismar plötzlich ins Oberliga-Paradies träumen. Für den Aufstieg musste Vorwärts die restlichen Spiele gewinnen und brauchte Schützenhilfe von den beiden Tabellenführern. Anker musste im Entscheidungsspiel siegen. Und dann wäre Wismar, die Hafenstadt an der Ostseeküste, der Ort aus dem Fußball-Niemandsland Mecklenburg, die erste Stadt der DDR mit zwei Oberliga-Mannschaften. Vor Dresden, das ja nur noch Aufsteiger Sachsenverlag hatte. Und vor Leipzig und Berlin.

Doch schon am 11. Juni war der Traum vorbei und die Tür wieder zu. Vorwärts Wismar unterlag in Weimar 2:4. Das geschah zwar mit achtbarer Leistung, doch mit elf Minuspunkten und 8:20 Toren war der dritte Aufstiegsplatz unerreichbar.

Aus der Traum (1): Mit der Niederlage in Weimar kann Vorwärts Wismar Platz 3 nicht mehr erreichen (Fuwo 24/1950).

Eine Woche darauf verlor auch Anker das Spiel um den freien Oberligaplatz mit 2:3. Statt zweier Mannschaften gab es nun gar keine.

Aus der Traum (2): Anker verliert das Entscheidungsspiel und bleibt ebenfalls zweitklassig (Fuwo 25/1950).

Das Glück schien sich nach Dresden zu wenden. Sachsenverlag schaffte souverän den Aufstieg in die Oberliga und nach dem Rückzug von Tabak arbeitete die Sportführung an einer zweiten Oberliga-Elf für Dresden. Dafür beförderte man die SG Deutsche Volkspolizei Dresden in die höchste Spielklasse und verstärkte sie mit VP-Fußballern aus der ganzen Republik. So war Anfang Juli klar, dass Dresden mit zwei Oberligamannschaften antreten würde.

Anfang Juli war es noch ein Gerücht, wenig später stand es fest: Mit VP Dresden spielt neben Aufsteiger Sachsenverlag eine zweite Dresdner Mannschaft in der Oberliga. (Berliner Zeitung 07.07.1950)

Die erste Stadt mit zwei Oberliga-Vereinen stand da aber schon fest: Es war – Berlin. Am 6. Juni hatte der dortige Landessportausschuss das Ende des gemeinsamen Spielbetriebs zum Saisonende beschlossen, Grund war die Einführung des Vertragsspielerstatus‘ im Westteil.

In der Woche nach dem 4. Juni ging auch in Berlin die Post ab. Der Landessportausschuss beschloss das Ende des gemeinsamen Spielbetrieb in der Berliner Stadtliga. (Berliner Zeitung 07.06.1950)

Der Deutsche Sportausschuss nahm Mitte Juni die Berliner Mannschaften in den Spielbetrieb der DDR auf. In die Oberliga kamen dabei zunächst Lichtenberg 47 und der VfB Pankow, später noch Union Oberschöneweide. Und auch das erste Oberliga-Lokalderby wurde in Berlin gespielt: Union unterlag am 17. September 1950 Lichtenberg 47 mit 1:4.   

Noch vor der Entscheidung für die zweite Dresdner Mannschaft beschloss der Sportausschuss die Aufnahme Berliner Mannschaften in die DS-Oberliga. Damit gab es erstmals ein echtes Lokalderby. (BeZ 17.06.1950).

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